„Der Fall wird wohl Schule machen“

Der Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling sieht in der Internet-Kampagne für Claudia Grau eine neue Dimension

Zahlreiche Stimmen für Nürtingens Bürgermeisterin Claudia Grau sorgten im ersten OB-Wahlgang für Aufsehen. Wir fragten dazu den Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling.

VON UWE GOTTWALD

In Nürtingen hat sich über Foren im Internet eine Kampagne formiert, mit der die Bürgermeisterin der Stadt, Claudia Grau, quasi als Gegenentwurf zu den offiziellen Bewerbern, darunter der Amtsinhaber, zur Oberbürgermeisterin gekürt werden soll, obwohl sie nicht auf dem Wahlzettel steht. Halten Sie das für legitim?
Nach geltendem Recht können auf dem Wahlzettel sowohl bei Wahlen zum Gemeinderat als auch bei Bürgermeisterwahlen von den Wählerinnen und Wählern zusätzliche Namen geschrieben werden. Sie werden bei der Auszählung mitgezählt. Insofern ist das Verhalten in Nürtingen legal. Dem Wahlverfahren in Baden-Württemberg liegt der Gedanke zugrunde, dass das Wahlergebnis grundsätzlich verbesserungsfähig sein muss. Deswegen findet ja auch keine Stichwahl statt, wenn kein Kandidat beim ersten Mal die absolute Mehrheit erreicht hat; es können sogar neue Kandidaten auftreten. Unter dem Aspekt der Qualitätssicherung ist also das Verfahren in Nürtingen legitim. Qualität bedeutet für Bürgermeister in Baden-Württemberg: Glaubwürdigkeit, Bürgernähe, Verwaltungserfahrung, Ideen, wie es mit der Gemeinde weitergehen soll. Mit diesen Maßstäben werden die Kandidaten von den Wählern gemessen.

Ist das Internet zur demokratischen Willensbildung geeignet? Bietet sich eine Kampagne wie in diesem Fall besonders an, weil es bei Persönlichkeitswahlen sehr stark auch um die Zuspitzung auf die Wahl (oder Abwahl) einer Person geht?
Das Internet bringt eine neue Qualität in die Bürgermeisterwahlen, Nürtingen ist hier Pionier, der Fall wird wohl Schule machen. Bislang konnte die Wahl eines Bürgermeisters durch Hinzufügung eines Namens auf dem Wahlzettel nur in kleinen Gemeinden erfolgreich sein, wie vor acht Jahren in der 1500-Einwohner-Gemeinde Hagnau am Bodensee. Da reicht die Mundpropaganda. In einer Stadt wie Nürtingen mit mehr als 40?000 Einwohnern wäre das bislang eine Unmöglichkeit gewesen.

Kennen Sie solche Beispiele und ist in Zukunft damit häufiger zu rechnen?
Das Internet ist offensichtlich dabei, Kommunalpolitik zu verändern. Kein Bürgermeister-Kandidat, der im Wahlkampf nicht einen Internet-Auftritt hätte – zumindest auch, und zwar als Ergänzung zur traditionellen Werbung. Mit dem Internet kann man auch solche Jugendlichen erreichen, die sich sonst weniger für (Kommunal-)Politik interessieren. Auch heute schon gibt es Bürgermeister, mit denen man im Internet chatten kann, mit Jugendlichen, die normalerweise den Bürgermeister nicht ansprechen würden. Ich kann mir zwar vorstellen, dass manchen Bürgermeistern die Vorgänge in Nürtingen unheimlich sind, bei ihnen Ängste nähren, wie bei der Zunahme von Nicht-Wiederwahlen (obwohl die sich bislang in engen Grenzen bewegen, unter fünf Prozent). Man sollte aber die positiven Seiten nicht übersehen.

Urheberschaften von Beiträgen sind bei dieser Kampagne nicht immer klar zuzuordnen, auf dem mittlerweile parallel verteilten Flugblatt gibt es keine namentliche Kennzeichnung. Erschwert das die politische Auseinandersetzung für die Bewerber, die sich offiziell zur Wahl gestellt haben?
In Flugblättern müssen sich die Verantwortlichen nennen, es würde aber eine Wahl nicht ungültig machen, wenn das nicht geschieht.

Es gibt Stimmen, die an diesem Beispiel die Notwendigkeit ausmachen, das Wahlrecht zu ändern. Wie beurteilen Sie das?
Natürlich kann man die gesetzlichen Wahlvorschriften ändern, indem nur gewählt werden darf, wer auf dem gedruckten Wahlzettel aufgeführt ist. Die gegenwärtige Koalition im Land, die sich die verstärkte Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die politischen Entscheidungen zum Ziel gesetzt hat, wird das nicht können. Aber auch die Opposition im Lande wird sich wohl kaum dafür gewinnen lassen.


Zur Person

Dr. Hans-Georg-Wehling

1938 geboren in Essen
1965 Staatsexamen an der Universität Tübingen, danach Promotion im Fachbereich Sozial- und Verhaltenswissenschaften
2003 Leiter der Abteilung Publikation bei der Landeszentrale für politische Bildung, Honorarprofessor am Institut für Politikwissenschaft und Vorstandsmitglied des Europäischen Instituts für Förderalismusforschung an der Universität Tübingen, Autor zahlreicher Publikationen zu regionalen und kommunalen Politikfeldern