Der OB-Kandidat und das Urheberrecht

Sebastian Kurz nahm es mit dem geistigen Eigentum anderer nicht immer sehr genau

Es handelt sich um eine „lebens- und liebenswerte Stadt, die seinen Einwohnern eine hohe Lebensqualität bietet“. Sagte der SPD-Bewerber um das Bürgermeisteramt schon im Februar 2008. Allerdings ging es damals um Weißenstadt am Rande des Fichtelgebirges. Heute sagt OB-Kandidat Sebastian Kurz dasselbe über Nürtingen. Nicht die einzige Textidentität, die bei ihm auffällt.

VON JüRGEN GERRMANN

NÜRTINGEN. Frank Dreyer (so heißt der Mann aus dem Landkreis Wunsiedel) hatte mit dieser Parole vor fast vier Jahren für sich geworben. Übrigens erfolgreich. Sebastian Kurz war davon offensichtlich so beeindruckt, dass er sie wortwörtlich für seine eigene Wahlkampf-Homepage übernahm – sinnigerweise inklusive des groben grammatikalischen Schnitzers: Es muss natürlich „ihren Einwohnern“ heißen. Nicht „seinen“.
Auch sonst war der Reuderner Christdemokrat offensichtlich beeindruckt vom Wahlkampf des Genossen aus Oberfranken: „Wir müssen und werden uns weiterentwickeln, wenn Weißenstadt auch in Zukunft lebens- und liebenswert bleiben soll. Ich möchte Weißenstadt als Bürgermeister so weiterentwickeln, dass sich alle Generationen in unserer Stadt wohlfühlen und gerne hier leben“, hatte der geschrieben. Bei Kurz liest es sich so: „Wenn Nürtingen auch in Zukunft einen hohen Lebensstandard bieten soll, muss sich die Stadt weiterentwickeln. Ich möchte Nürtingen in Ihrem Sinne gestalten – alle Generationen in unserer Stadt sollen sich wohlfühlen und gerne hier leben.“
Handelt es sich um einen Zufall, geboren aus der Wahrnehmung vieler, dass sich viele Politikersprüche in letzter Zeit ohnehin ähneln und austauschbar geworden sind? Oder geht es doch um mehr? Wer frühere Texte, die Kurz bei uns einreichte und die wir auch veröffentlichten, etwas genauer unter die Lupe nimmt, könnte fast den Eindruck haben. Wir haben in den vergangenen Tagen einige etwas näher unter die Lupe genommen. Das Ergebnis war für uns zum Zeitpunkt, als Kurz sie bei uns einreichte, noch nicht mal zu erahnen.

Artikel und Leserbriefe aus der „Welt“ tauchen in Nürtingen auf

Am 2. Mai 2010 hatte der renommierte Wirtschaftsredakteur Florian Hassel zum Beispiel einen längeren Artikel in der „Welt“ veröffentlicht: „Die Schuldigen des Griechenland-Desasters“. Kurze Zeit später reichte Sebastian Kurz bei uns einen Leserbrief ein, der am 15. Mai 2010 bei uns unter der Überschrift „Griechen, Schulden und Nürtingen“ veröffentlicht wurde. Mehr als die Hälfte daraus ist wortgleich mit Passagen aus Hassels Artikel.
Wortgleichheiten fallen auch bei einem Leserbrief vom 1. Juli 2010 auf: In „Wulff gewählt, Merkel angezählt“ ging Kurz auf die Bundespräsidentenwahl ein und kombinierte dabei wortgleiche Formulierungen aus einem Leserbrief an die „Welt“, den Peter Rösler aus Emsdetten geschrieben hatte, mit Attacken auf die Linke, die identisch sind mit Vorwürfen, die Hubertus Knabe, der Leiter der Stasi-Gedenkstätte in Hohenschönhausen (einem Berliner Stadtteil), kurz zuvor wörtlich in seinem Buch „Honeckers Erben“ erhoben hatte.
Am 28. Juli 2010 wandte sich Sebastian Kurz den Nullrunden für Rentner zu. Mit identischen Sätzen, die zwei Wochen zuvor Anton Schweizer beziehungsweise Edgar Niklaus aus München in Leserbriefen geäußert hatten, die auf der Internet-Seite des „Münchner Merkur“ zu lesen waren.
Am 21. August 2010 drehte sich alles um das „Lebensrisiko Sexualstraftäter“. Dabei wurde ein Leserbrief von Cornelia Bergner, der zehn Tage zuvor in der Online-Ausgabe der „Berliner Zeitung“ zu finden war, umgestellt (also hintere Absätze nach vorne gezogen und umgekehrt), aber ansonsten war Wort für Wort dasselbe.

Von einem Jesuitenpater aus Ägypten inspiriert

„Multikulti war ein Irrtum“, urteilte Sebastian Kurz in einem Leserbrief vom 3. September. Hier fördert die Text-Analyse Wortgleichheiten mit zwei verschiedenen Personen zutage: Den ersten Teil las man Buchstabe für Buchstabe in einem Interview, das die Welsch-Schweizer Zeitung „Le Courrier“ mit dem aus Ägypten stammenden Jesuitenpater Henri Boulad geführt hatte, den zweiten Teil im Buch „Der Multikulti-Irrtum: wie wir in Deutschland besser zusammenleben können“ – verfasst von der Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ates.

Auch die Rede des Raumfahrers unter eigenem Namen präsentiert

Am 28. September 2010 fühlte sich Kurz berufen, zum Streit um den Hartz-IV-Regelsatz Stellung zu beziehen. Sein großer Inspirator war diesmal der Journalist Michael Grandt, der tags zuvor auf der Internet-Seite des Rottenburger Kopp Verlages unter dem Titel „Fünf Euro sind zu viel“ provokante Gedanken geäußert hatte. Passagen davon machen, wieder unterschiedlich miteinander kombiniert, fast den gesamten Kurz-Leserbrief aus. Grandt weist übrigens auf seiner Homepage ausdrücklich auf das Urheberrecht hin. Manchmal tritt er auch als Vortragsredner zu Wirtschaftsthemen (wie „Der Staatsbankrott kommt“) auf. Da verlangt er dann als Honorar für zwei Stunden 1200 Euro plus Umsatzsteuer plus Reise- und Übernachtungskosten.
Am 7. Oktober beleuchtete Sebastian Kurz sein großes Thema: Stuttgart?21. „Wo war das Volk bei der Landtagswahl?“ fragte er da. Und in dem entsprechenden Leserbrief spiegelt sich sowohl ein Kommentar des Chefredakteurs der Stuttgarter Zeitung, Joachim Dorfs, – erschienen am 2. Oktober 2010 unter dem Titel „Politischer Fehler“ – als auch die Rede wider, die der Raumfahrer und Professor Dr. Ernst Messerschmid am 20. September 2010 bei der Verleihung des Hans-Peter-Stihl-Preises des Forums Region Stuttgart im Hörsaal 47.01 der Universität Stuttgart gehalten hatte.
„Wann gehört der Islam zu Deutschland?“: Diese Frage trieb Sebastian Kurz am 13. Oktober um. Er hielt sich sehr kurz, schrieb nur wenige Zeilen – aber die waren Wort für Wort identisch mit einer Passage aus einem Gastkommentar, den die Schriftstellerin Monika Maron, die von 1951 bis 1988 in der DDR lebte (wo ihr Roman „Flugasche“ nicht erscheinen durfte), in einem Gastkommentar im Berliner „Tagesspiegel“ kurz zuvor nach der Rede von Bundespräsident Christian Wulff zum Tag der Deutschen Einheit geschrieben hatte.
Am 2. November 2010 erschien dann der schon bekannte Leserbrief „Grüne waren für Untertunnelung“, zu dem Sebastian Kurz von seinem CDU-Parteifreund und Landtagsabgeordneten Dr. Reinhard Löffler inspiriert worden war. Der zeigte sich großzügig, wollte keine große Sache draus machen. Unsere Zeitung freilich entschloss sich daraufhin dazu, keine Leserbriefe mehr von Sebastian Kurz zu veröffentlichen. Unsere aktuellen Recherchen lassen den Schluss zu, dass dies vermutlich die richtige Entscheidung war – auch im Sinne des Schutzes anderer Autoren und ihres geistigen Eigentums.