Grübeln im Gemeinderat

Das Nürtinger Stadtparlament weiß nicht so recht, wie es mit dem Ergebnis der gestrigen OB-Wahl umgehen soll

VON JÜRGEN GERRMANN

Selbst die „große Anti-Heirich-Koalition“ war offenkundig überrascht vom Ergebnis der gestrigen Oberbürgermeisterwahl. Wie es nun weitergehen soll, wusste gestern unter den Repräsentanten der Gemeinderatsfraktionen zumindest spontan niemand so recht.

NÜRTINGEN
. CDU-Fraktionschef Thaddäus Kunzmann war zum Beispiel „überrascht über die Deutlichkeit des Nicht-Ergebnisses“. Das Resultat seines Parteifreundes Sebastian Kurz, den die CDU ja im Vorfeld nicht offiziell unterstützt hatte und der offiziell auch als parteilich ungebunden angetreten war, habe für ihn eine positive Überraschung bedeutet.
Allerdings sei das Ergebnis aus seiner Sicht „weder Fisch noch Fleisch“, sagte Kunzmann weiter. 60 Prozent hätten den Amtsinhaber Otmar Heirich definitiv nicht gewollt: „Aber es wurde auch nicht deutlich, wer es werden soll.“ Nun sei die Frage, wohin die Stimmen der Herausforderer im zweiten Wahlgang gingen. Wie es nun weitergehe, das müsse man im Gemeinderat nun besprechen. Das sei nicht Sache einer einzelnen Fraktion. Wäre da auch die Unterstützung eines neuen Kandidaten denkbar? „Das kann man nur beurteilen, wenn man wüsste, wer das wäre.“

„Das Ergebnis ist weder Fisch noch Fleisch“
Thaddäus Kunzmann, CDU

Aus Sicht von Dr. Otto Unger, des Fraktionsvorsitzenden der Freien Wähler, muss der Gemeinderat nun überlegen, „welche Kandidaten man auffordert, zurückzuziehen“. Vielleicht komme dann ja einer aus dem goldenen Ei: „Aber das kann ich mir bislang nicht vorstellen.“ Daher wolle er noch am selben Abend mit den anderen Fraktionen reden – was er offenkundig noch in der Glashalle tat, besonders intensiv übrigens mit dem Fraktionschef der Nürtinger Liste/Grüne, Dieter Braunmüller.
„Ich bin froh, dass wir noch drei Tage Aufschub haben, um die Situation zu überdenken“, diktierte der uns in den Stenoblock. Zuvor hatte er schon von „zwei Wochen Bedenkzeit“ gesprochen. Auf jeden Fall sei das Ergebnis von gestern ein „denkbar schlechtes Ergebnis für den OB“. Auf der anderen Seite sei er „froh, dass es im Rennen um Platz 1 und 2 nicht umgekehrt gekommen ist“. Ein Oberbürgermeister Sebastian Kurz scheint mithin nicht unbedingt zu den Dingen zu gehören, die sich Braunmüller sehnlichst wünscht.

„Heirich ist nicht schuld an allem. Daran sind auch andere beteiligt. Auch die Großen im Gemeinderat.“
Hermann Quast, FDP

Hermann Quast wiederum machte aus seinem Herzen keine Mördergrube. „Ich bin enttäuscht“, bekannte der Fraktionsvorsitzende der FDP ohne Umschweife. Er habe schon damit gerechnet, dass Otmar Heirich die 50-Prozent-Marke überspringe. Die fast zehn Prozent der „Sonstigen“ hätten ihm eben gefehlt. Nun sei der Gemeinderat gefragt, aber erst einmal müsse der amtierende OB seine Entscheidung treffen, ob er weitermachen wolle oder nicht. Auf jeden Fall aber müsse sich der Gemeinderat für Kompetenz in diesem Amt stark machen. Und er scheue sich auch nicht davor, dies auszusprechen: „Alle fünf anderen waren und sind nicht tauglich, OB zu werden.“
Diese Wahl sei auch „ein Armutszeugnis für die Bürger“. Otmar Heirich sei beileibe nicht schuld an allem, was in den letzten Jahren in der Stadt schief gelaufen sei: „Da sind auch andere daran beteiligt – auch die großen Fraktionen des Gemeinderats.“ Heirich habe dieses Ergebnis aus seiner Sicht schlichtweg nicht verdient. Nach diesem Wahlergebnis „stehen wir im weiten Umkreis wahrlich nicht gut da – und zwar sowohl die Stadt Nürtingen als Ganzes als auch der Gemeinderat“.
Helmut Nauendorf, Ex-SPDler und nun Stadtrat der Freien Wähler, sieht in dem Wahlergebnis für Otmar Heirich, den er im Wahlkampf offen unterstützt hatte, einen Grund, sich zurückzuziehen. Wenn fünf Kandidaten gegen ihn anträten, dann sei es natürlich schwer, sich gleich im ersten Anlauf mehr als die Hälfte des Stimm-Kuchens zu sichern. Er als alter Fahrensmann der Kommunalpolitik, der schon drei Nürtinger Oberbürgermeister erlebt hat, müsse indes schon mal sagen, dass unter allen dreien kein einziger ohne Fehl und Tadel gewesen sei, also auch Karl Gonser und Alfred Bachofer nicht. Und Otmar Heirichs Leistungsbilanz könne sich auch im Vergleich mit denen wahrlich sehen lassen.
Nauendorfs Oberensinger Fraktionskollegen Jürgen Geißler schockierten vor allem „die neun Prozent für die Sonstigen“. Für ihn sei klar gewesen, dass Heirich den Sieg im ersten Wahlgang nie und nimmer hätte packen können: „Dafür haben wir hier in Nürtingen viel zu viele Probleme.“
Überrascht über das Ergebnis zeigte sich Bärbel Kehl-Maurer, die Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Nürtingen und zugleich Stadträtin. Einerseits freute sich sich darüber, dass ihr Parteifreund Heirich 40 Prozent bekommen habe: „Andererseits hätte ich mir schon gewünscht, dass er über 50 kommt.“ Trotz dieses unerfüllten Wunsches liege aber der Kandidat, der über Kompetenz und Erfahrung verfüge, klar vorne. Auch das sei eine Erkenntnis dieser Wahl.
Schön sei auch die relativ hohe Wahlbeteiligung, die darauf schließen lasse, dass den Bürgern Kommunalpolitik sehr wichtig sei. Wobei sie auch einräume, dass manche Projekte in den vergangenen Jahren nicht so unter Beteiligung der Bürger abgelaufen seien, wie es vielleicht nötig gewesen wäre: „In Nürtingen muss die Bürgerbeteiligung künftig sicher noch mehr berücksichtigt werden.“

„Für den Amtsinhaber ist das eine Schlappe.“
Matthias Hiller, Junge Bürger

Der einzige unserer Interviewpartner, der das Ergebnis „ziemlich genau so erwartet hatte“, war Matthias Hiller von den Jungen Bürgern: „Für den Amtsinhaber ist das eine Schlappe.“ Und dann wurde er noch deutlicher, aber nicht konkreter: „Ich hoffe, dass im zweiten Wahlgang noch andere kommen.“ Welche denn? „Bei jemand ganz Fremdem müsste man abwarten.“
Nun, so fremd ist ja Michael Lutz, Schultes aus Waldenbuch, nicht. Der Kreisrat der Freien Wähler in Böblingen war ja schon vor Kurzem im Gespräch, nachdem der Kirchheimer Bürgermeister Günter Riemer nach sechs Wochen Bedenkzeit denen, die ihn für eine Kandidatur gewinnen wollten, einen Korb gegeben hatte. Lutz’ Frau sollte ja Gerüchten zufolge einer Gemeinderatssitzung in Nürtingen beigewohnt haben, und es gibt Leute, die ihren Gatten bei der letzten Podiumsdiskussion in der Kreuzkirche gesehen haben wollen, wie er sich fleißig Notizen machte – was für einen Bürgermeister aus der Nachbarstadt, der keinerlei Interesse hat, relativ ungewöhnlich wäre. Ist er nun der „Mister Y“? Hiller gibt da keine klare Antwort: „Bei denen, mit denen wir im Gespräch waren, hat es eine so deutliche Absage für den ersten Wahlgang gegeben, dass ich da nicht erwarte, dass von denen jemand kommt.“
Allerdings kommt auch da manchem die Wortwahl höchst interessant vor. Waren die Jungen Bürger mit Lutz im Gespräch oder nicht? Und gehört Claudia Grau, die Favoritin derer, denen keiner der sechs Kandidaten recht war, nach einem knappen halben Jahr Amtszeit zu denen, die „ganz fremd“ sind? Oder doch nicht? Darüber hörte man von Hiller nichts. Es bleibt also spannend in den nächsten Tagen. Und (nicht nur) der Gemeinderat grübelt weiter.